Wie Benjamin B. Ferencz zum Entstehen der internationalen Strafgerichtsbarkeit beitrug - Besprechung durch Peter Becker, Co-Präsident der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA)

Ein ungewöhnlicher Film über ein ungewöhnliches Thema: Wer kennt schon den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH), den es dort seit 2002 gibt? Und wer kennt Ben Ferencz, der 1946 mit 26 Jahren zum Chefankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess gegen die Mordbanden der SS wurde? Wenn heute Staatenlenker wegen der von ihnen verübten Verbrechen vor den IStGH gestellt werden können, dann ist das ein Erfolg, an dessen Herbeiführung zahlreiche Persönlichkeiten und Organisationen seit über 100 Jahren arbeiten; herausragend Ben Ferencz, der heute 95 Jahre alt ist.

Vorgänger des Völkerstrafrechts war das Kriegsvölkerrecht, auf das Organisationen wie das Internationale Friedensbüro mit Sitz in Bern, gegründet 1891, oder die Deutsche Friedensgesellschaft, gegründet 1892, hinwirkten. 1892 erschien auch Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder, der die militärregierte Gesellschaft des Kaiserreichs für das Problem von Krieg und Frieden sensibilisierte. 1899 kam es zur ersten Internationalen Haager Friedenskonferenz, auf der mit der Haager Landkriegsordnung Grundregeln der Kriegsführung verabschiedet wurden, etwa die Staaten haben kein unbegrenztes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes. Nur Kombattanten durften einander töten, Zivilisten sollten geschützt werden. 1907 folgte die Zweite Haager Friedenskonferenz, die zahlreiche Abkommen verabschiedete, insbesondere das Haager Abkommen betreffend die friedliche Erledigung von internationalen Streitfällen mit der Einrichtung eines Schiedsgerichtshofs, der aber von Preußen unterlaufen wurde, obwohl es noch in der Einleitung hieß, dass „seine Majestät der Deutsche Kaiser, König von Preußen, von dem festen Willen beseelt [sei], zur Aufrichtung des allgemeinen Friedens mitzuwirken“. Der deutsche Kaiser war aber derjenige, der zusammen mit dem befreundeten Österreich-Ungarn behauptete, Russland habe den Ersten Weltkrieg vom Zaun gebrochen, obwohl die Österreicher mit der Bombardierung von Belgrad den Weltkrieg auslösten.

Dafür wurde Kaiser Wilhelm II, „vormaliger Kaiser von Deutschland, wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge unter öffentliche Anklage“ gestellt (Art. 227 des Vertrags von Versailles). Maßstab für die Beurteilung der Verantwortlichkeit war die Haager Landkriegsordnung von 1899/1907. Aber zur Erhebung der Anklage kam es nicht: Die Niederlande gewährten Wilhelm Asyl und weigerten sich, ihn auszuliefern.

Mit den Nürnberger Prozessen wurde erstmals eine internationale Strafgerichtsbarkeit etabliert, beschlossen mit dem Londoner Vier-Mächte-Abkommen vom 8. August 1945. Mit diesem ‚Londoner Statut‘ wurde ein internationaler Militärgerichtshof mit Sitz in Nürnberg bestimmt. Robert H. Jackson, amerikanischer Chefankläger, erklärte in seiner Rede zur Eröffnung des Prozesses am 21. November 1945: „[…] wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden“. Prozesse gegen die Alliierten wegen der von ihnen begangenen Kriegsverbrechen hatten sich die Nürnberger Ankläger allerdings verbeten – ‚Siegerjustiz‘.

Angeklagt wurden als Hauptkriegsverbrecher Minister wie Göring und von Ribbentrop oder Generäle wie Generalfeldmarschall Erhard Milch, aber auch Ärzte, Juristen, ‚Wehrwirtschaftsführer‘ wie Friedrich Flick. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde bei diesen Prozessen von den Siegermächten versucht, die verantwortlichen Kriegsverbrecher gerichtlich zu belangen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden nur dann verfolgt, wenn diese in Verbindung mit einem Angriffskrieg begangen wurden. Daher wurde das enorme Unrecht des Holocaust nicht umfassend angepackt.

Ausnahme war der Einsatzgruppen-Prozess, mit 24 ehemaligen SS-Führern als Angeklagten, die als Kommandeure der Einsatzgruppen die Verantwortung für deren Verbrechen in der besetzten Sowjetunion trugen. Die Zahl der Opfer der Einsatzgruppen wird auf mindestens 600.000 geschätzt.

Der Prozess war Ferencz‘ Werk. Er war Telford Taylor, der ab Oktober 1946 Hauptankläger war, von seinem akademischen Lehrer an der Harvard Law School, Prof. Glueck, als „vielversprechender Student“ empfohlen worden. Er hatte schon als Soldat ab Februar 1945 beim Judge Advocate in Deutschland Erfahrung bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen gesammelt. Nachdem er Mitte 1946 die Arbeit aufgenommen hatte, entdeckte er Ende 1946 die Einsatzgruppen-Meldungen, in denen deren Leiter, etwa der SS-Führer Otto Ohlendorf, akribisch die Zahl der getöteten Sowjetbürger und vor allem Juden verzeichnet hatten. Taylor willigte zunächst nicht in die Strafverfolgung ein. Aber Ferencz erklärte ihm: „Das war kaltblütiger Massenmord und ich kann das beweisen.“ Mit diesen Worten wurde Ferencz zum Chefankläger für den Prozess bestimmt und mit 27 Jahren der jüngste leitende Staatsanwalt bei den Nürnberger Prozessen.

Der Film zeigt eine drollige Szene: Ferencz am Pult des Anklägers ist flankiert von zwei großen Männern, die links und rechts von ihm stehen. Ferencz hingegen reicht kaum mit dem Kinn übers Pult. Der Kommentar: Die Verteidiger müssen stehen und der Ankläger sitzt. Aber: Ferencz stand auch. Nur war er so klein, dass er kaum mit dem Kopf über das Pult reichte.

Der Film beginnt mit einer rührenden Aufstiegsgeschichte. Ferencz‘ Eltern, ungarische Juden, emigrieren wegen der Nazis in die USA. Der Vater bringt als Schuhmacher die Familie mehr schlecht als recht durch. Aber Ferencz fällt seinen Lehrern auf, wird zunächst an die High School empfohlen und schafft tatsächlich den Schritt zur Harvard Law School, wo er auch seinem Professor auffällt. All das erzählt Ferencz auf Englisch, im Film mit deutschen Untertiteln, in einer bewegenden, teilweise hochemotionalen Darstellungsweise – man leidet und triumphiert mit ihm.

Der eigentliche Triumpf ist die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs, beschlossen im Jahr 1998 mit dem sogenannten ‚Rom-Statut‘. 120 Staaten stimmen der Gründung zu. Aber dazu ist es nur gekommen, weil sich die ‚Coalition for an International Criminal Court‘ (CICC), ein Zusammenschluss von weltweit mehr als 1.500 nichtstaatlichen Organisationen, initiiert 1995 von ‚The Federalist Movement‘, für die Gründung einsetzte. Die CICC wurde zum Teil von der EU finanziert. Deutschland spielte eine treibende Rolle bei der Gründung und ist nach Japan der zweitgrößte Beitragszahler zum Haushalt, der 2012 rund 109 Mio. Euro umfasste. Erster deutscher Richter war Hans-Peter Kaul, der wesentlich für Deutschlands führende Gründungsrolle verantwortlich war.

Kaul hat dem Tagesspiegel am 05.08.2014 ein sehr bewegendes Interview gegeben: Deutschland hat sich von der amerikanischen Bevormundung gelöst, kurz vor seinem Tod. Das bestimmende Thema: Die USA stehen dem Gerichtshof nicht nur skeptisch gegenüber. Denn der Internationale Strafgerichtshof war für die Amerikaner immer ein ‚Gericht für andere‘. Amerikaner dürften dort nie verurteilt werden. Kaul: „Absolut, für sie darf kein amerikanischer Staatsbürger anderswo verfolgt und bestraft werden als in den USA. Die Wahrheit ist, die Amerikaner missachten den Grundsatz: Gleichheit vor dem Recht, gleiches Recht für alle. Etwa die Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten hat sogar ein Gesetz, das seinen Richtern verbietet, Völkerrecht anzuwenden. Das ist eine lächerliche Position. Zahlreiche Gouverneure und Regierungen sind auch noch stolz darauf und brüsten sich damit, für ihre Bürger nur amerikanisches Recht anzuwenden.“ Kaul weist zwar darauf hin, dass auch US-Bürger ein Verfahren in Den Haag riskieren, wenn sie wüten wie etwa im Irak. Aber Bush drohte den Niederlanden für den Fall der Anklage eines US-Bürgers in Den Haag, ihn mit militärischen Mitteln zu befreien. Die Regierung Bush tat alles, um weitere Beitritte zum Rom-Statut zu verhindern. In den Jahren 2003-2005 wurde eine massive Einschüchterungskampagne gegen beitrittswillige Staaten gefahren. Kaul: „Wenn es die nicht gegeben hätte, gäbe es heute wahrscheinlich 130 oder 140 Mitgliedstaaten […] Der Prozess ist mühsam. Trotzdem bin ich überzeugt, dass wir […] Schritt für Schritt immer mehr Mitglieder gewinnen.

Das ist auch Ferencz‘ Devise. Er gehörte, wie der Deutsche Hans-Peter Kaul, zu den treibenden Kräften für den Vertrag von Rom, obwohl das absolut nicht die Linie seines Heimatstaats war. Der IStGH ehrte ihn, indem man ihm die Anklage im ersten Fall übertrug, gegen Thomas Lubanga: Ihm wurde zur Last gelegt, als Gründer und Führer der bewaffneten Milizunion der Congolese Patriots Kinder zwangsrekrutiert und in kriegerischen Auseinandersetzungen eingesetzt zu haben.

Aber der Film begnügt sich nicht damit. Er schlägt den Bogen zu den rechtswidrigen Drohnenkriegen der USA und zeigt auf, in welcher Form sie gegen das Völkerstrafrecht verstoßen. Insofern ist der Film nicht nur ein Film um den Helden des Völkerstrafrechts Benjamin Ferencz, sondern ein Film für die Friedensbewegung und alle, die sich der Herrschaft des Rechts verschreiben und versuchen, anzutreten gegen den militärischen Interventionswahnsinn, wie ihn insbesondere die Regierung George W. Bush mit Dick Cheney, Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz angezettelt hatte.

Im Abspann zitiert Ullabritt Horn, die Regisseurin, Ferencz mit den drei wichtigsten Sätzen des Kämpfers für den Frieden: 1) Never give up! 2) Never give up! 3)… Ein bewegender Film, für den die Regisseurin von der Deutschen Film- und Medienbewertung mit Recht das Prädikat erhalten hat: „Ein beeindruckendes und tief berührendes Portrait. Dem Team um Ullabritt Horn ist ein wundervoller Film gelungen. A woman can make a difference.

A Man Can Make a Difference. Dokumentarfilm. Regie: Ullabritt Horn. D 2015. FSK 12. Kinostart ist am 12. November.