Ein Beitrag aus "german foreign policy" vom 05.03.2014
(Eigener Bericht) - Mit einem Besuch des Bundespräsidenten reagiert Berlin auf anhaltende Forderungen aus Athen nach Entschädigung für NS-Massenverbrechen in Griechenland. Nach längerem Vorlauf hat das griechische Parlament in der vergangenen Woche einen Ausschuss eingesetzt, der mögliche Reparationsforderungen prüfen soll. Es gehe dabei, so heißt es, um einen hohen Milliardenbetrag. Joachim Gauck wird in den nächsten Tagen mehrere Schauplätze von NS-Verbrechen besuchen; es steht zu erwarten, dass er dabei mit den üblichen warmen Worten vom festen deutschen Willen ablenken wird, keinerlei Entschädigung zu zahlen. Gegen Berlin klagt zur Zeit unter anderem die Jüdische Gemeinde Thessalonikis: Sie verlangt die Rückzahlung eines von NS-Stellen erpressten "Lösegeldes" für 9.000 Juden, die in deutsche Vernichtungslager deportiert wurden. Zudem steht die Forderung nach Rückzahlung einer NS-Zwangsanleihe zur Debatte, die Berlin 1942 kassiert, aber bis heute nicht beglichen hat. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages kommt zu dem Schluss, dass die Forderung rechtlich begründet ist. Das Dokument wird bis heute geheimgehalten.
Entschädigungsforderungen aus Athen
Athen sucht seit geraumer Zeit nach Möglichkeiten, die Forderung nach Entschädigung für NS-Besatzungsverbrechen, welche die Bundesregierung seit je beharrlich verweigert, auf geeignetem Wege vorzubringen und nach Möglichkeit zum Erfolg zu führen. Im September 2012 ist unter der Schirmherrschaft des griechischen Rechnungshofs eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, die die Höhe der Reparationsforderungen prüfen soll. Im April 2013 verhandelte der Vorsitzende des Auswärtigen Parlamentsausschusses aus Athen mit deutschen Regierungsvertretern in Berlin über etwaige griechische Reparationsansprüche. Im Januar teilte der griechische Außenminister mit, er sei in der Sache seit Monaten mit dem deutschen Außenminister im Gespräch. Letzte Woche ist in Athen nun ein Parlamentsausschuss eingesetzt worden, der Reparationsforderungen gegenüber Berlin konkret prüfen soll. Berlin hält es unter diesen Bedingungen offenkundig für hilfreich, den Bundespräsidenten nach Griechenland zu entsenden. Von ihm werden warme Worte erwartet, die, wenn möglich, zugleich klarstellen sollen, dass Deutschland seine Entschädigungsverweigerung nicht aufgeben wird. Gauck wird, bevor er die Schauplätze eines NS-Massakers (Lyngiades) und eines NS-Deportationsverbrechens (Ioannina) besucht, eine programmatische Rede halten, die den Blick aus der Vergangenheit in die unverfänglichen künftigen Zeiten wenden soll - unter dem Titel "Europa: Erbe und Zukunft".[1]
"Unvermeidbare Kriegsfolge"
Zum Erbe nicht Europas, wohl aber Deutschlands in Griechenland gehört die Vernichtung des Dorfes Lyngiades, das Gauck am Freitag besuchen wird. In Lyngiades hatten am 3. Oktober 1943 Soldaten der Gebirgsdivision "Edelweiß", um eine Widerstandsaktion griechischer Partisanen zu rächen, bei der ein deutscher Offizier ums Leben gekommen war, 82 Menschen ermordet, fast die Hälfte von ihnen Kinder. Das Massaker ist erst kürzlich durch die verdienstvolle Buchpublikation "Feuerrauch" des Rechts- und Sozialgeschichtlers Christoph Schminck-Gustavus dem Vergessen entrissen worden. "Lyngiades war kein Einzelfall, sondern die brutale Normalität der deutschen Besatzung in Griechenland", heißt es in einem aktuellen Zeitungsbeitrag [2]: "In Griechenland gab es nicht ein Oradour, sondern viele Hunderte. Doch in Deutschland hat man davon wenig Notiz genommen." Keiner der Täter ist je einer Strafe zugeführt worden. Vielmehr ist ein Strafverfahren 1972 von der Staatsanwaltschaft beim Münchner Landgericht mit der Begründung eingestellt worden - so berichtet es Schminck-Gustavus -, das Massaker sei "eine unvermeidbare und damit notwendige Folge des Land- oder Luftkrieges" gewesen, es habe außerdem den damals "geltenden Grundsätzen des Völkerrechts entsprochen".[3] Entschädigungen an Hinterbliebene der Opfer sind ebenfalls nie gezahlt worden.
Erpresst und nie zurückgezahlt
Zum deutschen Erbe in Griechenland gehören auch die NS-Massendeportationen von Jüdinnen und Juden in die deutschen Vernichtungslager, so etwa die Deportation von 1.960 jüdischen Bewohnern Ioanninas am 25. März 1944. Fast alle von ihnen wurden ermordet, ganz wie in anderen griechischen Städten: Von den 50.000 Jüdinnen und Juden Thessalonikis etwa überlebten knapp 2.000 die NS-Besatzung. Die Jüdische Gemeinde Thessalonikis hat erst kürzlich eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, die sich auf ein NS-Verbrechen aus dem Jahr 1943 bezieht. Damals hatten die Deutschen von der jüdischen Bevölkerung der Stadt ein "Lösegeld" von 1,9 Milliarden Drachmen erpresst, mit dem 9.000 jüdische Griechen im Alter von 18 bis 45 Jahren von der Zwangsarbeit freigekauft werden sollten. Die Deutschen kassierten das Geld - und deportierten die Männer nach Auschwitz. Das "Lösegeld" blieb in Deutschland. Die Jüdische Gemeinde fordert nun die Rückzahlung, die Berlin bis heute konsequent verweigert. Weil die griechischen Gerichte die Forderung mit Verweis auf die "Staatenimmunität" zurückgewiesen haben, liegt die Klage jetzt in Strasbourg.[4]
Zeit heilt Schulden
Das "Lösegeld" aus Thessaloniki ist keineswegs die einzige Summe, die aus Griechenland geraubt und nie zurückgezahlt worden ist. So hat Berlin im Jahr 1942 eine Zwangsanleihe in Höhe von 476 Millionen Reichsmark erhoben; sie ist Athen bis heute nicht erstattet worden. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages berechnet den heutigen Wert der Zwangsanleihe - Stand: Ende 2011 - bei einer dreiprozentigen Verzinsung auf 8,25 Milliarden US-Dollar. Griechische Stellen kommen sogar auf weit höhere Beträge. Die Bundesregierung erklärt die Forderung, Athen das Geld doch endlich zurückzuzahlen, hingegen für obsolet: "Nahezu 69 Jahre nach Kriegsende und nach Jahrzehnten friedlicher, vertrauensvoller und fruchtbarer Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit der internationalen Staatengemeinschaft einschließlich dem NATO-Verbündeten und EU-Partner Griechenland hat die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren. ... Im Übrigen wären Reparationen mehr als 65 Jahre nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen ohne jede Präzedenz."[5] Ohne Präzedenz waren allerdings vor allem die NS-Menschheitsverbrechen, auch diejenigen in Griechenland.
Offene Ansprüche
Dabei geht offenkundig sogar der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages davon aus, dass die Berliner Verweigerungshaltung juristisch auf fragwürdiger Grundlage beruht. Wie Ulla Jelpke, die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion "Die Linke", erklärt, liegt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes vor, dem zufolge Griechenland rein rechtlich "immer noch Ansprüche auf die Rückzahlung von Kriegsschulden erheben könnte". Die Bundesregierung beziehe sich immer wieder auf die "Charta von Paris" von 1990 und behaupte, Athen habe sie zur Kenntnis genommen und "sich mit der deutschen Entschädigungsverweigerung abgefunden". "Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags verweist jedoch darauf, dass sowohl der Wortlaut als auch der Zusammenhang der Charta von Paris nicht unbedingt dafür sprächen, diese Kenntnisnahme als endgültigen Verzicht ... auf Reparationen auszulegen." Ohnehin werde "die Frage der Reparationen in der Charta mit keinem Wort angesprochen". Wie Jelpke berichtet, ist das Gutachten vergangenen Sommer entstanden und als "vertraulich" deklariert.[6]
Lukrative Staatenimmunität
Bislang hat sich die Bundesrepublik stets darauf verlassen können, dass Entschädigungsklagen abgewiesen wurden; zuletzt hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag ihr "Staatenimmunität" zugesprochen.[7] Das zahlt sich aus: Reparationen müssten unter anderem für die Zerstörung von weit über 1.700 Dörfern und die Massakrierung Hunderttausender gezahlt werden; Griechenland verlor unter der deutschen Besatzung fast 15 Prozent seiner Bevölkerung. In Athen kursieren zur Zeit Berechnungen, die die Höhe der notwendigen Entschädigungszahlungen bei einem Wert von 162 Milliarden Euro sehen; hinzu kämen, da die Bundesregierung Reparationen fast 70 Jahre lang strikt verweigert hat, ansehnliche Zinsen.[8]
Bitte lesen Sie auch den Offenen Brief von Manolis Glezos an den deutschen Bundespräsidenten.
[1] Staatsbesuch in der Hellenischen Republik. www.bundespraesident.de 03.03.2014.
[2] Michael Thumann: Unsere Schuld, eure Schulden. www.zeit.de 20.02.2014.
[3] Christoph U. Schminck-Gustavus: Feuerrauch. Die Vernichtung des griechischen Dorfes Lyngiádes am 3. Oktober 1943. Bonn 2013 (Dietz).
[4] Christiane Schlötzer: Erpressung, Mord und nie ein Wort der Entschuldigung. www.sueddeutsche.de 25.02.2014.
[5] Deutscher Bundestag, Drucksache 18/451, 06.02.2014.
[6] Bundesregierung muss Zwangsanleihe an Griechenland zurückzahlen. www.ulla-jelpke.de 20.02.2014.
[7] S. dazu Ein immuner Staat, Totalabwehr, Deutschland unantastbar und Eine hässliche Bilanz.
[8] Gauck zu Besuch bei fremden Freunden. www.tagesspiegel.de 04.03.2014.
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