Beschlüsse griechischer Asylentscheider stellen in zunehmendem Maß den EU-Abschiebepakt mit Ankara in Frage.
german foreign policy vom 07.06.2016
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59381
Wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl berichtet, stufen griechische Stellen bei der Entscheidung, ob Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeschoben werden dürfen, das Nachbarland immer öfter nicht als "sicheren Drittstaat" ein. Bereits zuvor hatten deutsche Medien konstatiert, die griechische Asylbehörde entscheide Anträge trotz massiven Drucks aus Brüssel "und einigen europäischen Hauptstädten" "meist im Sinne der Migranten".
Gleichzeitig geben jedoch immer mehr Flüchtlinge auf und nehmen an Programmen zur angeblich "freiwilligen" Rückkehr in die Armuts- und Kriegsgebiete ein, denen sie unter erheblichen Risiken entflohen sind. Ursache sind zum einen die Lebensbedingungen in den griechischen Flüchtlingslagern, die eine menschenwürdige Existenz kaum zulassen und viele in die Resignation treiben; hinzu kommt, dass eine Weiterreise in die west- und nordeuropäischen Wohlstandszentren inzwischen beinahe ausgeschlossen scheint. Dies liegt nicht zuletzt an bürokratischen Schikanen und an der Nichterfüllung von Verpflichtungen zur Übernahme von Flüchtlingen - gerade auch auf Seiten der Bundesrepublik
Der Geist des Abkommens
Die Tätigkeit der griechischen Asylentscheider ist von offiziellen Stellen in Deutschland wie auch in Brüssel seit dem Inkrafttreten des Abschiebepakts mit der Türkei am 20. März sehr skeptisch begleitet worden. Bereits Anfang April wurde berichtet, "dem Vernehmen nach" werde "die griechische Asylbehörde derzeit aus Brüssel und einigen europäischen Hauptstädten unter starken Druck gesetzt, Anträge rasch abschlägig zu bescheiden und dabei zur Not einige Schritte des vorgesehenen Procedere zu überspringen". Wer jedoch die Leiterin der Behörde, Maria Stavropoulou, kenne, "wird das nicht für aussichtsreich halten", hieß es weiter: "Auf Einmischungsversuche in die Arbeit der Asylbehörde reagiert deren Direktorin unmissverständlich." Zwar könne der griechische Innenminister "sie natürlich zum Rücktritt drängen"; doch machten die Mitarbeiter der Asylbehörde ebenfalls nicht den Eindruck, sich gegen ihren Willen von außen steuern zu lassen. Vergangene Woche wurde nun gemeldet, die griechischen Beamten entschieden "meist im Sinne der Migranten" - "und damit anders, als es der Geist des Flüchtlingsabkommens vorsieht". So seien "nur etwa 30 Prozent der Asylanträge von Syrern ... in erster Instanz abgelehnt" worden. Darüber hinaus dauerten die Verfahren länger, als man es in Berlin und Brüssel wünsche: Stavropoulou weise "immer wieder" darauf hin, "dass die nötigen Ressourcen und der Zeitaufwand für ein angemessenes Asylverfahren größer seien als gemeinhin vermutet". Zudem herrsche Personalmangel. Letzteres stimmt, ist allerdings auf den Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst zurückzuführen, den Athen auf Druck Berlins und Brüssels verhängen musste, um zu sparen.
Kein sicherer Drittstaat
In den vergangenen Tagen sind nun mehrere Abschiebebeschlüsse, die in der ersten Instanz gefällt worden waren, von dem dreiköpfigen Asylkomitee, bei dem Berufung eingelegt werden kann, zurückgewiesen worden. Die Entscheidungen des Komitees seien "im Zusammenhang mit der Frage" gefällt worden, "ob die Türkei ein 'sicherer Drittstaat' ist", teilt die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl mit. Alles in allem gebe es "mittlerweile zehn veröffentlichte Entscheidungen der 2. Asylinstanz, in denen festgestellt wurde, dass die Türkei kein 'sicherer Drittstaat' für syrische Flüchtlinge ist". Darüber hinaus lägen "zahlreiche weitere positive Entscheidungen vor, die bislang jedoch noch nicht zugestellt wurden". In der vergangenen Woche wurde zudem in einem Fall ein Eilantrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Es handelt sich um den Fall eines schwulen Syrers, der noch in der Türkei von Kämpfern des "Islamischen Staats" (IS/Daesh) verfolgt und bedroht wurde. Sein Asylantrag sei nach seiner Befragung durch das European Asylum Support Office (EASO), an das auch deutsche Beamte entsandt worden sind, für unzulässig erklärt worden, berichtet Pro Asyl. Der Flüchtling ist zur Zeit auf Lesbos inhaftiert.
Lagerelend
Nicht nur das Haftlager Moria auf Lesbos, auch die anderen griechischen Flüchtlingslager sind in einem Zustand, der ein menschenwürdiges Leben in vielen Fällen kaum möglich erscheinen lässt. Dies berichten Journalisten sowie Organisationen, die die Flüchtlinge vor Ort unterstützen. Insgesamt sind zur Zeit - Stand: 20. Mai - 54.230 Schutzsuchende offiziell in Griechenland registriert; während 8.592 auf den ägäischen Inseln festsitzen, leben 45.638 auf dem griechischen Festland. Viele von ihnen wohnen in massiv überfüllten Zelten ohne Elektrizität, die weder gegen Hitze noch gegen Kälte Schutz bieten und teilweise wasserdurchlässig sind. Die Mehrzahl der Lager befindet sich fernab von größeren Ansiedlungen, was die Flüchtlinge weitgehend vom gesellschaftlichen Leben ausschließt. Zahlreiche Flüchtlinge beklagen eine völlig unzulängliche sanitäre Ausstattung der Lager sowie eine unzureichende medizinische Versorgung; sogar in den Krankenhäusern gebe es zu wenig Personal, zu wenig Betten und zu wenig Medikamente. Letzteres liegt freilich daran, dass Athen auf Druck aus Berlin und Brüssel in den vergangenen Jahren auch bei der Gesundheitsversorgung so drastisch kürzen musste, dass Experten schon seit geraumer Zeit offen von einer schweren "Gesundheitskrise" sprechen.
37 von 17.209
Das Massenelend in den griechischen Flüchtlingslagern ist ein Resultat nicht nur der miserablen Versorgung, sondern auch der Tatsache, dass die EU-Staaten bestehende Regelungen zur Umverteilung der Flüchtlinge und zum Familiennachzug nicht einhalten. Beides trifft auch auf die Bundesrepublik zu. Laut EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos kämen unter den aktuellen Bedingungen 70 Prozent der in Griechenland festsitzenden Flüchtlinge für die Umverteilung in Frage, die die EU im vergangenen September beschlossen hat. Demnach sollen zumindest 160.000 Flüchtlinge umverteilt werden, 63.302 davon aus Griechenland, von denen wiederum Deutschland 17.209 aufzunehmen zugesagt hat. Bis zum Inkrafttreten des Abschiebepakts mit der Türkei sind laut offiziellen Angaben der EU-Kommission 37 Flüchtlinge in die Bundesrepublik geholt worden.
Bürokratisch ausgehebelt
Ähnlich sieht es beim Familiennachzug aus. Organisationen wie die Ökumenische Werkstatt NAOMI aus Thessaloniki, die Flüchtlinge in Nordgriechenland unterstützt, berichten, unter den Schutzsuchenden, die in den letzten Monaten die Reise aus der Türkei in die EU angetreten hätten und nun in Griechenland feststeckten, befänden sich überdurchschnittlich viele Frauen und Kinder. Sie hätten sich offenkundig auf den gefahrvollen Weg gemacht, als die Familienzusammenführung für Flüchtlinge in Deutschland in Frage gestellt worden sei, berichtet NAOMI-Mitarbeiterin Dorothee Vakalis. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung den gesetzlich geregelten Familiennachzug mit bürokratischen Schikanen systematisch und umfassend untergräbt. So müssen Familienangehörige persönlich bei einer deutschen Botschaft oder einem Konsulat ein Visum beantragen; der Postweg genügt nicht. Die Wartezeit für einen Termin bei der deutschen Botschaft in Beirut - einer der wenigen, die in Frage kommen - beträgt gegenwärtig 14 Monate. Wer einen Termin bei diplomatischen Vertretungen in der Türkei oder Jordanien erhalten hat, sieht sich mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert: Jordanien verweigert Syren häufig die notwendige Einreisegenehmigung, während die Türkei die Visumspflicht für Syrer eingeführt hat; türkische Visa wiederum erhält man ebenfalls nur nach einer längeren Wartezeit, die es manchen Familienangehörigen unmöglich macht, ihren Termin bei der entsprechenden deutschen Stelle einzuhalten. Zudem verlangt das Auswärtige Amt, dass nur Syrer den Nachzug beantragen dürfen, die im Besitz gültiger Reisepässe sind. Pässe zu beantragen ist wiederum "nicht nur sehr teuer und meist gefährlich, sondern auch mit weiteren langen Wartezeiten von bis zu acht Monaten verbunden", berichtet Pro Asyl.
Die Lager wirken
Zermürbende bürokratische Schikanen und die katastrophalen Lebensbedingungen in den griechischen Flüchtlingslagern führen mittlerweile dazu, dass immer mehr Flüchtlinge aufgeben - und in die Armuts- und Kriegsgebiete zurückkehren, denen sie mühsam entkommen sind. Wie die International Organization for Migration (IOM) berichtet, hatten sich zum Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan zu Jahresbeginn noch überhaupt nicht für die IOM-Angebote zur "freiwilligen" Rückkehr interessiert. Das hat sich mittlerweile geändert. Bis zum 3. Mai hat die IOM bereits 615 Afghanen "Rückkehrhilfe" geleistet; insgesamt unterstützte sie 2.026 Flüchtlinge dabei, den Versuch aufzugeben, in den wohlhabenden Staaten West- und Nordeuropas Schutz zu erhalten. Die Lager der EU verfehlen ihre Wirkung nicht.