von Bernd Hahnfeld, IALANA

7. Juni 2023
Download der pdf

Die Existenz von Atomwaffen lässt sich ebenso wie chemische und bakteriologische Waffen völkerrechtlich nicht rechtfertigen. Diese Waffen erfüllen keinen anderen Zweck als unvorstellbare Zerstörung herbeizuführen oder anzudrohen. Zivilen Nutzen haben sie nicht.

Ihre Entwicklung, Produktion oder Stationierung werden von den Staaten geheim gehalten.

„Insbesondere die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen, die wahllos wirken und geeignet sind menschliches Leben in katastrophalem Ausmaß zu vernichten“, sind mit der Achtung auf Leben unvereinbar. Das hat der UN-Menschenrechtsausschuss 2018 in seiner Kommentierung 65 zu Art. 6 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) bestätigt.[1] Sie verletzen das Menschenrecht auf Leben nach Art. 6 UN-Zivilpakt.[2] Art. 6 wörtlich: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.“  Der UN-Zivilpakt ist 1976 in Kraft getreten und auch in bewaffneten Konflikten anzuwenden. Bis 2021 hatten ihn 173 Staaten ratifiziert. Zu den Vertragsstaaten des UN-Zivilpaktes zählen alle EU-Mitgliedsstaaten und auch alle ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates.

Die Tötung mit Atomwaffen ist willkürlich, wenn sie unter keinerlei Umständen zu rechtfertigen ist. Diese Frage ist nach dem humanitären Völkerrecht zu beantworten.

Die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht. Das Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte (Protokoll I) vom 8.6.1977[3] stellt in Art. 35 unmissverständlich und rechtsverbindlich fest: „In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegsführung.“ Sie dürfen nur Waffen einsetzen, die das humanitäre Völkerrecht nicht verbietet. Der Einsatz von Atomwaffen und seine Androhung sind nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von 1996[4] durch die Genfer Abkommen verboten, weil

  • ihre Wirkung nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheidet,
  • ihre radioaktive Strahlung unnötige Qualen verursacht,
  • sie Schäden an der Umwelt und den Lebensgrundlagen der Menschen für zukünftige Generationen verursachen und
  • sie durch den grenzüberschreitenden Fall-Out neutrale Staaten in Mitleidenschaft ziehen.

Beim Einsatz der Atomwaffen können diese Wirkungen nicht vermieden werden. Diese Waffen treffen unterschiedslos alle Lebewesen im Zielgebiet, verstrahlen Überlebende und die Umwelt radioaktiv und senden durch Winde den Fall-Out in die Nachbarländer.

Das völkerrechtliche Einsatzverbot bindet nicht nur die Vertragsstaaten, sondern gewohnheitsrechtlich alle Staaten der Welt.[5] Es gilt für alle Notwehrfälle, auf die sich die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten berufen, also auch in dem von ihnen in Anspruch genommenen Fall „einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel stehen würde.“ Denn der IGH hat in seinem Gutachten klargestellt, dass selbst im Fall einer extremen Notwehrsituation, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, ein etwaiger Atomwaffeneinsatz allenfalls dann völkerrechtsgemäß sein kann, wenn er die genannten Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts erfüllt. Laut IGH ist das Notwehrrecht nach Art. 51 UN-Charta durch das humanitäre Völkerrecht eingeschränkt, „welche Mittel der Gewalt auch eingesetzt werden.“[6] Damit ist jede Tötung mit Atomwaffen willkürlich.

Das humanitäre Völkerrecht ist gleichzeitig Kriegsrecht wie Menschenrecht. Denn indem es eine Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Kampfmitteln zieht, hat es für die nicht verbotenen Waffen eine legitimierende und für die rechtlich geächteten Waffen eine delegitimierende Funktion und insoweit die gleiche Zielsetzung wie die Menschenrechte, nämlich den Schutz der menschlichen Person. Beide Regelungsbereiche sind miteinander verknüpft, auch parallel anwendbar und stehen nicht in Konkurrenz gegeneinander.[7]

Die heute geltenden Regeln des humanitären Völkerrechts sind nach und nach seit dem 19. Jahrhundert als Antwort auf die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Kriegen entwickelt worden. Sie sollen zum Schutze von Menschen und Natur eine „Reglementierung“ der Kampfmethoden schaffen. Die St. Petersburger Erklärung von 1868, die Haager Abkommen von 1899 und 1907, die Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1906 und 1929, die vier Genfer Abkommen von 1949 und die Zusatzprotokolle zu den vier Genfer Abkommen von 1977 sind die herausragenden Vertragswerke.[8] Dabei ist die Fortentwicklung Ergebnis der schockierenden Auswirkungen des WK II und vor allem nicht-regierungsamtlichen Institutionen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zu verdanken.

Schwäche zeigt das Völkerrecht bei der Durchsetzung von Recht.[9] Nicht geschaffen wurde bisher eine Instanz zur zwangsweisen Durchsetzung von Völkerrecht – vergleichbar der innerstaatlichen Justiz. Nur der UN-Sicherheitsrat hat nach der UN-Charta insoweit Kompetenzen. Wenn er keine Veranlassung sieht, nach Art. 39 UN-Charta eine Bedrohung, einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung förmlich festzustellen, etwa weil ein ständiges Mitglied widerspricht, bleiben auch schwerwiegende Völkerrechtsverstöße durch den UN-Sicherheitsrat ungeahndet.

Tatsächlich hängt die Wirkung von Völkerrecht im wesentlich von einem Mindestmaß an normgerechten Verhalten der Staaten ab. Insoweit wirken zwei Momente:

- die Erwartung der Gegenseitigkeit, also ein langfristig unabweisbares Interesse der Staaten an der gegenseitigen Einhaltung festgelegter Verhaltensmuster und

- die öffentliche Meinung. Selbst Großmächte versuchen in aller Regel zu vermeiden, vor der Weltöffentlichkeit mit dem Odium des Rechtsbrechers belastet zu werden. Aktivitäten von Staaten oder Staatengruppen (z.B. Sanktionen) oder deklaratorische Mehrheits-Beschlüsse der UN-Generalversammlung können die öffentliche Meinung beeinflussen und Rechtsbrecher an den Pranger stellen.

Nichtregierungsorganisationen können Erfolg haben, indem sie Regierungen der Atomwaffenstaaten und ihrer Verbündeten für ihre völkerrechtswidrige Atomwaffen-Politik und ihre doppelten Standards medienwirksam kritisieren. Denn diese dürfen nach dem „estoppel-Prinzip“ nicht von anderen Regierungen die Einhaltung von Völkerrechtsnormen verlangen, die sie selbst brechen.[10]

 

[1] Human Rights Committee, General comment No. 36 (2018) on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, on the right to life - 30 October 2018 - CCPR/C/GC/36

[2] BGBl. 1973 II S. 1534

[3] BGBl. 1990 II S. 1551

[4] IGH Rechtsgutachten vom 8. Juli 1996 – deutsch und englisch in IALANA „Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof“, Münster 1997

[5] IGH aaO Ziff. 78

[6] Ziffern 40, 41, 42, 78 des Rechtsgutachtens, Ziff. 42 wörtlich: „Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann allein für sich genommen die Anwendung von Atomwaffen in Notwehr nicht unter allen Umständen ausschließen. Aber gleichzeitig muß eine Gewaltanwendung, die nach dem Notwehrrecht verhältnismäßig ist, um rechtmäßig zu sein auch die Forderungen des für bewaffnete Konflikte verbindlichen Rechts erfüllen, was insbesondere die Grundsätze und Regeln des humanitären Völkerrechts umfaßt.“

[7] Michael Bothe in Wolfgang Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl., 8. Abschnitt, Rdnr. 57 ff.

[8] Knut Ipsen in Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., § 56

[9] Wolfgang Graf Vitzthum, Völkerrecht, 4. Aufl., § 1 Rdnrn. 51, 65

[10] Heintschel von Heinegg in Ipsen, Völkerrecht, §19 Rdnr. 7